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Von der DDR in den Frankenwald: Ballonflüchtling Günter Wetzel im Interview

Das kleine Städtchen Naila im Frankenwald unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von anderen Orten in Oberfranken. Vor 45 Jahren wurde Naila aber weltweit bekannt. Damals gelang zwei Familien eine tollkühne Flucht aus der ehemaligen DDR. In einem Feld im Ortsteil Naila-Dreigrün landete am 16. September 1979 der selbstgenähte Heißluftballon der Familien Strelzyk und Wetzel.


Von der DDR in den Frankenwald: Ballonflüchtling Günter Wetzel im Interview ♥ Lesezeit: 5 Minuten


Was verbindet Sie heute noch mit Naila?

Günter Wetzel: Naila steht für mich für einen Neustart in ein komplett neues Leben. Hier hat alles angefangen. Wir sind Sonntagfrüh um 3 Uhr in Naila gelandet und zur Polizeiwache gebracht worden. Die haben den Bürgermeister informiert. Sonntagfrüh um 5 Uhr hatten wir bereits eine Wohnung. Der Bürgermeister hat erkannt, dass durch unsere Geschichte Naila bekannt werden könnte. Was ja auch so war. Es gab Zeitungsberichte, in denen stand „Hof bei Naila“. (lacht)

Kommen Sie heute noch nach Naila?

Günter Wetzel: Ja, natürlich. Ich bin Mitglied im Heimatverein, dem unser Ballon gehört, deshalb bin ich öfter in Naila. Der Ballon ist ja aktuell noch in Regensburg, aber er gehört der Stadt Naila. Er kommt offenbar schon im Oktober zurück und wird dann Anfang nächsten Jahres, wenn das Museum Schritt für Schritt umzieht, wieder zu sehen sein. Ich bin dieses Jahr auch häufiger in Naila für ein gemeinsames Projekt mit der Gedenkstätten Amthordurchgang, dem ehemaligen Stasigefängnis. Mit Schülergruppen aus vier verschiedenen Schulen besuchen wir das Museum in Naila.

Von der DDR in den Frankenwald: Ballonflüchtling Günter Wetzel im Interview

Wie reagiert die junge Generation auf Ihre Geschichte?

Günter Wetzel: Ich bin vorwiegend unterwegs bei Schülern der 8. bis 12. Klasse. Egal ob Osten oder Westen: Sie wissen wenig über die DDR. Aber das Interesse ist riesengroß. Ich erzähle dann anderthalb bis zwei Stunden – und es herrscht völlige Ruhe. Viele Lehrer sagen im Anschluss: Wenn die bei mir mal so ruhig wären. (lacht) Es geht ja nicht nur um unsere Flucht, sondern auch um die Vorgeschichte und unser Leben in der DDR.  Ich bin jetzt auch seit etwa vier Jahren im Osten unterwegs. Das hat sich bisher nicht ergeben. Neulich war ich auf einer Veranstaltung in Chemnitz, die hatten 50 bis 60 Sitzplätze, aber es kamen 250 Leute und wir mussten in eine andere Räumlichkeit umziehen.

Haben Sie eine Theorie, warum das Interesse in den neuen Bundesländern erst jetzt aufkommt?

Günter Wetzel: Ich weiß es nicht. Ich hatte mal die Vermutung, dass an den Schulen eventuell noch alte Schulleitungen sitzen, die das Thema abgeblockt haben. Aber es entwickelt sich.

Werden Sie nie müde, Ihre Geschichte zu erzählen?

Günter Wetzel: Nö, überhaupt nicht. Ich bin Rentner und habe dadurch eine Beschäftigung. (lacht)

Von der DDR in den Frankenwald: Ballonflüchtling Günter Wetzel im Interview

Mit 45 Jahren Abstand: Was ist Ihre stärkste Erinnerung an ihre Flucht?

Günter Wetzel: Das Zusammentreffen mit den Polizisten. Wir wussten ja bei der Landung nicht: Hat es geklappt oder hat es nicht geklappt? Wir hatten zwar die Hoffnung, weil wir ein wenig gesehen hatten: erst kleine Felder, dann einen Strommast und landwirtschaftliche Maschinen. Da war die Hoffnung, dass es geklappt haben könnte. Als wir mit den Polizisten zusammentrafen und fragten: „Sind wir hier im Westen?“, lautete die Antwort: „Natürlich, wo sonst?“ Das ist etwas, das sich festgesetzt hat. Dieser Augenblick der Gewissheit.

Die Frage „Sind wir hier im Westen?“ kommt ja auch in dem Film „Ballon“ vor, der ihre Geschichte erzählt.

Günter Wetzel: Ich habe den Film mittlerweile 30 mal gesehen – und finde ihn immer noch gut. (lacht) Man darf natürlich nicht vergessen, dass es ein Spielfilm ist. Der muss spannend sein. Es ist nicht alles so, wie es tatsächlich war. So werden beispielsweise nur zwei Ballons gezeigt, obwohl wir ja drei hatten. Aber der Film beruht ganz klar auf unserer Geschichte. 

Von der DDR in den Frankenwald: Ballonflüchtling Günter Wetzel im Interview

Was wäre gewesen, wenn Sie es nicht über die Grenze geschafft hätten? Wären Sie in der DDR verschwunden?

Günter Wetzel: Wir wären ins Gefängnis gekommen. Allerdings hatten wir einen Plan B. Wenn man auf meine Website geht, sieht man ein Foto, auf dem ich neben meiner Nähmaschine stehe. Es gibt auch ein zweites, auf dem man auch den Ballon sieht. Die haben wir bewusst gemacht. Wir haben einen West-Verwandten eingeweiht in die ganze Geschichte. Wenn wir ins Gefängnis gekommen wären, sollte er über die West-Medien unsere Geschichte bekannt machen. Während der ganzen Zeit der DDR hat die Bundesregierung flüchtende Gefangene freigekauft.

Wie wäre das abgelaufen?

Die DDR hat auf diese Weise 3,4 Milliarden D-Mark eingenommen, mit diesem Menschenhandel. Gerade in den 1970er Jahren war das eine sehr aktive Geschichte. Da haben wir natürlich sehr gehofft, dass wir freigekauft werden. Das wurde abgewickelt über das größte Stasi-Untersuchungsgefängnis der DDR: das Kaßberg-Gefängnis in Chemnitz. Der Kaßberg war ein streng geheimes Gefängnis mit über 160 Zellen. Es hatte den Spitznamen „Päppelanstalt“. Denn Gefangene, die freigekauft wurden, kamen zuerst ins Kaßberg und wurden dort aufgepäppelt. Erst danach wurden sie abgeholt von Bussen aus dem Westen. 

Ihr Plan B war also eigentlich wirklich gut durchdacht …

Günter Wetzel: Unser Plan war gut durchdacht, aber wir wussten trotzdem nicht, was es wirklich für Konsequenzen gegeben hätte. Es hätte vermutlich schon geklappt. Dann wären wir in den Westen gekommen und im Rahmen der Familienzusammenführung wären die Kinder nachgekommen.

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Würden Sie Ihre waghalsige Flucht als jugendliche Torheit verbuchen oder würden Sie es wieder tun?

Günter Wetzel: Jein. Das kann man so nicht sagen. Ich bin froh, dass wir es gemacht und die Entscheidung getroffen haben. Aber mit dem Wissensstand von heute würde ich es wahrscheinlich nicht mehr tun. Es kommt immer auf die Umstände an. Ich bin mittlerweile 32 Jahre selber geflogen, war 20 Jahre Fluglehrer und habe einige Ballonfahrten hinter mir. Heute ist mir sehr bewusst, was alles hätte schiefgehen können. Wir haben ein riesengroßes Glück gehabt, dass es geklappt hat. In 2.000 Meter Höhe ging uns das Gas aus. Da hätte alles passieren können. Ich kenne das von Unfällen, wenn der Ballon oben zusammengeklappt ist und wie ein Schlauch drüber hängt, dann geht es senkrecht nach unten ohne Bremse. Das hätten wir natürlich nicht überlebt. Wir hatten das Glück, dass unser Ballon offen geblieben ist und dadurch die Landung, sofern man das sagen kann, relativ gut gegangen ist.

Besuchen Sie regelmäßig den Grenzerstammtisch?

Günter Wetzel: Regelmäßig kann man nicht sagen, da es fast 100 Kilometer sind, aber doch recht häufig. Ich habe zum Glück jemanden gefunden aus der Nähe von Chemnitz, der mit meiner Geschichte verwoben ist. Vor etwa zweieinhalb Jahren zum 42. Jahrestag habe ich einen Anruf bekommen von einem Herrn Richter. Der hat gesagt, er wollte sich schon lange bei mir melden. Er war damals derjenige, der den Scheinwerfer aus uns geleuchtet hat, damals als Grenzsoldat in Blankenstein. Er war wehrpflichtig und musste zur Grenze, er konnte auch nichts dafür. Hätte er geschossen? Wahrscheinlich schon, wenn er gemusst hätte. Der Befehl war da, das kann ich ihm nicht krummnehmen. Das war halt damals so. Heute sind wir befreundet und fahren zusammen zum Grenzerstammtisch. 

Von der DDR in den Frankenwald: Ballonflüchtling Günter Wetzel im Interview

Was ist das schönste an diesen Treffen für Sie?

Günter Wetzel: Dass man Leute trifft, die sich an diese Zeit erinnern und man darüber reden kann. Das ist ja kein Thema, worüber man einfach so bei jedem Stammtisch sprechen kann. Das interessiert viele gar nicht. Es sind ja nicht nur Grenzer dabei, es ist ein offener Stammtisch. Da kann jeder kommen. Meist sind 20 bis 25 Grenzer dabei, aber insgesamt treffen oftmals 60 bis 80 Leute zusammen. Da sind viele Leute, die die Zeit miterlebt haben und zum Grenzerstammtisch kommen, um mal darüber zu reden. Der Gründer des Grenzerstammtisches ist übrigens der Grenzpolizist, der unseren Fall damals bearbeitet hat. Der redet gerne sehr bildhaft und viel. (lacht)

Wenn Sie mit Ihrer Lebensgeschichte den Menschen einen Rat für die Zukunft geben sollten: Welcher wäre das?

Günter Wetzel: Mit dem Rat geben ist es ja immer so eine Sache, aber was ganz klar ist: Wir können dankbar sein, dass wir heute in einer Demokratie leben. 

Von der DDR in den Frankenwald: Ballonflüchtling Günter Wetzel im Interview

Waren sie mal irgendwo am Grünen Band unterwegs und haben sich die Grenzen von einst angeschaut?

Günter Wetzel: Ja, ich habe im Jahr 2020 eine kurze Wanderung mit Thorsten Hoyer, dem Chefredakteur vom „Wandermagazin“, am Grünen Band gemacht. Er ist ja das komplette Grüne Band abgelaufen.


Zur Person:

Ballonflüchtling Günter Wetzel

Ballonflüchtling Günter Wetzel

Günter Wetzel wurde 1955 in der Nähe von Pößneck in Thüringen geboren. Im Jahr 1973 lernten er und seine Frau das Ehepaar Peter und Doris Strelzyk kennen. Gemeinsam entstand die Idee, aus der DDR zu fliehen. Durch Zufall stießen die Ehepaare in einer West-Zeitschrift auf einen Artikel über Heißluftballons – und ein tollkühner Plan entstand. Nach mehreren Versuchen gelang es ihnen, einen Ballon zu bauen, der in der Nacht auf den 16. September 1979 abhob. Der Heißluftballon ging nach 28 Minuten und 22 Kilometer, davon 12 Kilometer über DDR-Gebiet, zu Boden – am Finkenflug im Ortsteil Naila-Dreigrün im Frankenwald. Nach vielen Jahren in Franken lebt Günter Wetzel heute wieder in Thüringen. Er ist deutschlandweit unterwegs, um in Schulen von seiner Flucht und dem Leben in der DDR zu berichten.

Mehr Infos auf www.ballonflucht.de.

Film „Ballon“ (Foto: Amazon)
Film „Night Crossing“ (Foto: Amazon)

Die Geschichte der spektakulären Flucht wurde zwei Mal verfilmt: 1981 von einer amerikanischen Produktionsfirma mit dem Film „Night Crossing“ („Mit dem Wind nach Westen!“), 2018 von Michael Bully Herbig. Er bereitete sich sechs Jahre lang auf den Film „Ballon“ vor. 

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